Liebe Kolleginnen und Kollegen,
von den drei pathogenetischen Wegen, wie sich okklusale Formstörungen belastend auf Muskeln und Gelenke innerhalb und außerhalb des Kausystems auswirken können, habe ich in den letzten beiden Weblog-Posts die hohen Kräfte beim Bruxismus und den Einfluss von propriozeptiven Afferenzen aus dem Kausystem auf die Gleichgewichtsregulation bzw. die Körperhaltung beschrieben. Heute geht es um die so genannte Zwanghafte okklusale Vigilanz. Sie ist am schwierigsten zu behandeln: Sie erfordert sowohl die Einsicht und die Mitarbeit des Patienten als auch die Behandlung durch einen Psychotherapeuten.
Es geht um Patienten mit therapieresistenten Kopf- und Gesichtsschmerzen und einem besonderen Leidensweg: Solche Patienten sind seit Jahren von einem gnathologischen Spezialisten zum nächsten „gewandert“ und präsentieren sich mit einer ganzen Reihe von Aufbiss-Schienen. Allein die Linderung ihrer Beschwerden ist bisher ausgeblieben. Die Patientinnen – es handelt sich in unserer Praxis fast ausschließlich um Frauen – erscheinen verzweifelt und berichten über einen enormen Leidensdruck. Den Beginn ihrer Beschwerden ordnen sie meist einer bestimmten restaurativen oder prothetischen Zahnbehandlung mit einer entsprechenden Okklusionsveränderung zu. Sie sind verbittert und weisen dem dafür verantwortlichen Zahnarzt „die ganze Schuld“ an ihren Beschwerden zu. Typischerweise breiten sich die Beschwerden im Laufe der Zeit von der Kopf-Gesichtsregion ausgehend in andere Körperregionen aus. Die Ganzkörperschmerzzeichnung dieser Patientinnen zeigt oft eine diffuse Schmerzverbreitung über fast den ganzen Körper.
In Fachkreisen werden diese Patienten als „Koryphäenkiller“ bezeichnet, weil schon mehrere Fachkoryphäen mit ihren Behandlungsversuchen (meist Aufbiss-Schienen) an den Beschwerden gescheitert sind. Aus der Perspektive der betroffenen Patienten ist dieses Verhalten des „doctor shoppings“ der mehr oder weniger verzweifelte Versuch, durch maximale Eigeninitiative eine Lösung für ihre Probleme zu finden – leider an den falschen Stellen mit den falschen Methoden. Die Diagnose atypischer Gesichtsschmerz (neuerdings zunehmend Fibromyalgie) begleitet diese Patienten. Besonders auffällig ist, dass sie fachlich hervorragend informiert sind. Sie kennen die biomechanischen Fachausdrücke von „Fronteckzahnführung“ über „Mediotrusion“ bis „Zentrik“ und sehen sich selbst schon als Experten der Okklusion. Sie erwarten sich von uns die „geniale“ Aufbiss-Schiene, die ihre Kopf- und Gesichtsschmerzen ein für alle Mal beseitigt. Die Gefahr ist groß, dass wir in diese Falle tappen und einen weiteren biomechanischen Behandlungsversuch mit einer Aufbiss-Schiene starten.
Diese Patientinnen leiden an einer zwanghaften (anankastischen) psychischen Störung: Sie richten ihre Aufmerksamkeit zwanghaft und permanent auf ihre Okklusion. Sie haben dauernd ihre Zähne aufeinander und prüfen ihre Zahnkontakte. Sie haben verlernt, dass die normale Lage des Unterkiefers die Ruhelage ist – ohne Zahnkontakte. In der Psychologie bezeichnet man diese Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einen Wahrnehmungsinhalt als Vigilanz. Wie ich mir die Entstehung der Zwanghaften okklusalen Vigilanz erkläre, habe ich in einem längeren Artikel beschrieben, den Sie hier herunterladen können.
Der Umgang mit diesen Patienten erfordert viel Einfühlungsvermögen, kommunikative Kompetenz und Zeit. Zunächst müssen wir das Anliegen des Patienten ernst nehmen. Auf keinen Fall dürfen wir die Beschwerden als eingebildet und „psychisch“ abwerten. Wir müssen Verständnis zeigen und geduldig zuhören. Auch im eigenen Interesse: Wir ersparen uns viel Ärger und Frustration, wenn wir nicht in die „biomechanische Falle“ tappen und den Patienten in die richtige Richtung lenken. Selbst wenn sich der Patient nicht einsichtig zeigt und sich enttäuscht von uns abwendet, ist dies für ihn und für uns besser als eine erneute Fehlbehandlung.
In den nächsten Weblog-Posts geht es um:
- Okklusionsdiagnostik
- Das „richtige“ Okklusionskonzept
- Okklusionstherapie
Bis zum nächsten Mal
Ihr Erich Wühr
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